Das Bettelweib von Locarno (1811)

von Heinrich von Kleist (1777-1812)

 

Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien,

befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges

Schloss, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard

kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein

Schloss mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren

einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete,

eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür

eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden ge-

bettet worden war. Der Marchese, der, bei der Rück-

kehr von der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo er

seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau un-

willig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzuste-

hen, und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau,

da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem

glatten Boden aus, und beschädigte sich, auf eine ge-

fährliche Weise, das Kreuz; dergestalt, dass sie zwar

noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es

vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter den

Ofen aber, unter Stöhnen und Ächzen, niedersank und

verschied.

    Mehrere Jahre nachher, da der Marchese, durch

Krieg und Misswachs, in bedenkliche Vermögensum-

stände geraten war, fand sich ein florentinischer Ritter

bei ihm ein, der das Schloss, seiner schönen Lage

wegen, von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem

viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf,

den Fremden in dem obenerwähnten, leerstehenden

Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war,

unterzubringen. Aber wie betreten war das Ehepaar,

als der Ritter mitten in der Nacht, verstört und bleich,

zu ihnen herunterkam, hoch und teuer versichernd,

dass es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem

Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob

es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden,

mit vernehmlichen Schritten, langsam und gebrech-

lich, quer über das Zimmer gegangen, und hinter dem

Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei.

    Der Marchese erschrocken, er wusste selbst nicht

recht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiter-

keit aus, und sagte, er wolle sogleich aufstehen, und

die Nacht zu seiner Beruhigung, mit ihm in dem Zim-

mer zubringen. Doch der Ritter bat um die Gefällig-

keit, ihm zu erlauben, dass er auf einem Lehnstuhl, in

seinem Schlafzimmer übernachte, und als der Morgen

kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab.

    Dieser Vorfall, der außerordentliches Aufsehen

machte, schreckte auf eine dem Marchese höchst un-

angenehme Weise, mehrere Käufer ab; dergestalt,

dass, da sich unter seinem eigenen Hausgesinde, be-

fremdend und unbegreiflich, das Gerücht erhob, dass

es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, umgehe,

er, um es mit einem entscheidenden Verfahren nieder-

zuschlagen, beschloss, die Sache in der nächsten

Nacht selbst zu untersuchen. Demnach ließ er, beim

Einbruch der Dämmerung, sein Bett in dem besagten

Zimmer aufschlagen, und erharrte, ohne zu schlafen,

die Mitternacht. Aber wie erschüttert war er, als er in

der Tat, mit dem Schlage der Geisterstunde, das unbe-

greifliche Geräusch wahrnahm; es war, als ob ein

Mensch sich von Stroh, das unter ihm knisterte,

erhob, quer über das Zimmer ging, und hinter dem

Ofen, unter Geseufz und Geröchel niedersank. Die

Marquise, am andern Morgen, da er herunterkam,

fragte ihn, wie die Untersuchung abgelaufen; und da

er sich, mit scheuen und ungewissen Blicken, umsah,

und, nachdem er die Tür verriegelt, versicherte, dass es

mit dem Spuk seine Richtigkeit habe: so erschrak sie,

wie sie in ihrem Leben nicht getan, und bat ihn, bevor

er die Sache verlauten ließe, sie noch einmal, in ihrer

Gesellschaft, einer kaltblütigen Prüfung zu unterwer-

fen. Sie hörten aber samt einem treuen Bedienten, den

sie mitgenommen hatten, in der Tat, in der nächsten

Nacht dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Ge-

räusch; und nur der dringende Wunsch, das Schloss, es

koste was es wolle, loszuwerden, vermochte sie, das

Entsetzen, das sie ergriff, in Gegenwart ihres Dieners

zu unterdrücken, und dem Vorfall irgendeine

gleichgültige und zufällige Ursache, die sich ent-

decken lassen müsse, unterzuschieben. Am Abend des

dritten Tages, da beide, um der Sache auf den Grund

zu kommen, mit Herzklopfen wieder die Treppe zu

dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der

Haushund, den man von der Kette losgelassen hatte,

vor der Tür desselben ein; dergestalt, dass beide, ohne

sich bestimmt zu erklären, vielleicht in der unwillkür-

lichen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes,

Lebendiges, bei sich zu haben, den Hund mit sich in

das Zimmer nahmen. Das Ehepaar, zwei Lichter auf

dem Tisch, die Marquise unausgezogen, der Marchese

Degen und Pistolen, die er aus dem Schrank genom-

men, neben sich, setzen sich, gegen elf Uhr, jeder auf

sein Bett; und während sie sich mit Gesprächen, so

gut sie vermögen, zu unterhalten suchen, legt sich der

Hund, Kopf und Beine zusammengekauert, in der

Mitte des Zimmers nieder und schläft ein. Drauf, in

dem Augenblick der Mitternacht, lässt sich das ent-

setzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein

Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich, auf

Krücken, im Zimmerwinkel empor; man hört das

Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten

Schritt: tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich

plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und

knurrend und bellend, grad als ob ein Mensch auf ihn

eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen

weicht er aus. Bei diesem Anblick stürzt die Marquise

mit sträubenden Haaren, aus dem Zimmer; und wäh-

rend der Marquis, der den Degen ergriffen: wer da?

ruft, und da ihm niemand antwortet, gleich einem Ra-

senden, nach allen Richtungen die Luft durchhaut lässt

sie anspannen, entschlossen, augenblicklich, nach der

Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch einige Sachen zu-

sammengepackt und aus dem Tore herausgerasselt,

sieht sie schon das Schloss ringsum in Flammen auf-

gehen. Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte

eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz

getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines

Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hin-

ein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elen-

diglichste Weise bereits umgekommen, und noch jetzt

liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine

weißen Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von

welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufste-

hen heißen.

 

[Kleist: Erzählungen, S. 319 ff. Digitale Schüler-Bibliothek,

S. 26241 (vgl. Kleist-WuB Bd. 3, S. 215 ff.)]